Im Bauch des Bären tickt noch die Uhr - WELT (2024)

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Timothy Treadwell starb an einem verregneten Nachmittag Anfang Oktober 2003 in seinem Zelt in der Wildnis Alaskas durch die Zähne und Tatzen der Kreatur, die er über alles liebte. Ein 28 Jahre alter Grizzly mit der Tätowierungsnummer 141 des U.S. Park Service griff Treadwell und seine Freundin Amie Huguenard an, tötete sie nach einem sechs Minuten langen Kampf und verschlang genug Körperteile, um davon Fett für den Winterschlaf zu ziehen.

Auf der Tonspur einer Videokamera Treadwells, deren Objektiv gnädigerweise mit einer Kappe verschlossen war, ist Amies tapfere Gegenwehr mit einer Bratpfanne und ihr furchtbarer Totentanz mit dem Mann, der wie ein Bär leben wollte, überliefert. Werner Herzog erspart ihn dem Publikum von "Grizzly Man". Sonst erspart er ihm nichts in einem der hinreißendsten Filme, die je über die menschliche Natur und die Sehnsucht, heim ins Tierreich und in ein vermeintlich gerechtes Leben zu fliehen, gemacht wurden.

Aguirre, Fitzcarraldo, Kinski und alle anderen wilden Odysseusfiguren, die Werner Herzog immer zu Filmen verführt haben, finden ihren Kumpanen in Wahnsinn und Besessenheit in Alaska in Gestalt eines 46 Jahre alten gescheiterten Schauspielers aus Long Island und Ex-Junkies mit blonder Prinz-Eisenherz-Frisur und einer flötend zärtlichen Mädchenstimme, wenn er zu seinen 500-Kilo-Teddys spricht. Dreizehn Sommer leistete Treadwell fast immer allein seinen Bärendienst, ohne Waffe, in tollkühner Mißachtung aller Regeln als Kustode und ganz im gerechten Zorn gegen eingebildete Wilderer und den Rest der Welt. Und brachte es zu Prominenz in Tierschutz- und Umweltschutzkreisen. In den letzten Jahren drehte Timothy Treatwell 100 Stunden Videofilm, die er auf seinen Werbetourneen vorführte. Der den Bär machte, grunzend, auf allen Vieren laufend, legte Wert darauf, stets in Schwarz, mit Sonnenbrille und Stirnband vor seine Kameras zu treten. Erst in Herzogs Montage, im Gegenschnitt mit Gerichtsmediziner, Freunden, Kritikern, ehemaligen Geliebten, ist Treadwells egomanische Haustierparade erträglich und aufklärerisch.

Man muß nicht lange nachdenken, um die Verzauberung Werner Herzogs durch diesen Stoff zu begreifen. Und es ist sensationell und nur billig, daß Amerika seinem bayrischen Wahlbürger in Los Angeles nach 62 Lebensjahren und über 50 Spiel- und Dokumentarfilmen für seinen "Grizzly Man" feiert wie einen der ihren. Auf dem Sundance Festival ausgezeichnet, kam der Film am Wochenende in die Kinos der Metropolen. In all den Elogen und raumgreifenden Interviews, die in den großen Zeitungen erschienen, bemühte sich allein der "New Yorker" um etwas Temperierung. Zwar stieß auch er sich nicht am breiten bajuwarischen Akzent des (bis auf eine Szene) unsichtbaren Erzählers. Doch rügt der Autor, daß sich der "naive Egoismus und Optimismus des Amerikaners, und der hyperkultivierte Europäer, der seine eigene Bürde der Verzweiflung gegenüber der Natur" trage, sich neutralisieren. Der harmoniesüchtige Schwärmer wolle den Tod als Konstante der Natur nicht wahrhaben. Der andere sehe am Ende, als Treadwell mutmaßlich seinen Mörder, den Bären 141, filmt, Grausamkeit und Gnadenlosigkeit statt einfach Hunger. "Keiner der beiden Männer will zuzugestehen, daß ein Bär ein Bär ein Bär ist."

In dieser Verweigerung treffen sich der von Herzog adoptierte "tief gestörte, aber auch mutige" Treadwell mit dem Buben aus einem entlegenen Alpental, der bis zum Alter von elf Jahren nicht wußte, daß es ein Kino gab. Wilde, selbstbestimmte Burschen wie Aguirre und Treadwell hätten ihn und seine vaterlose Generation immer angezogen, gestand er der "Washington Post" nach einer Vorführung des "Grizzly Man" im Frühsommer. Der Bärenliebhaber leugne die "überwältigende Gleichgültigkeit der Natur" und die Ordnung der Nahrungskette. Nicht Harmonie, wie von dem verkuschelten Treadwell behauptet, sondern "Feindseligkeit, Chaos, Mord" beherrsche die Bärenwelt. "Die fressen ihre Jungen, um säugende Weibchen als Sexpartner zu gewinnen." Er zeigt den mutmaßlichen Mörder als kalten Fresser.

Das Argument dreht Jewel Pawolak, die selbsternannte Witwe Treadwells, Erbin und Verwalterin des Videonachlasses für die Gruppe GrizzlyPeople, mit einigem Geschick um. "Indem Werner den Bären mörderische Aspekte andichtet, tut er genau, was er Timothy vorwirft: Er macht Tiere antropomorph."

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Die braven Bärendienstleister von Grizzly People würden sich erst recht entsetzen, wenn einer der Rezensenten den (naheliegenden) Vergleich von Timothy Treadgill mit dem Serienmörder aus "Das Schweigen der Lämmer" gewagt hätte. Der schwule Blonde, der mit Mädchenstimme seinen Pudel ruft und aus Menschenhaut an Kleiderpuppen seine Idealfrau fertigt, gleicht dem Bärenfreund auf fast beängstigende Weise. Denn natürlich will auch Treadwell mit der komplizierten Menschenwelt nichts mehr zu tun haben und herzt seine ahnungslosen Bärenbrüder, die überlegen im Einklang mit der Natur leben. Er will sein wie sie, einer von ihnen, die eifersüchtige Sehnsucht ist in jeder Einstellung zu spüren, die er sorgfältig vor seiner Videokamera einrichtet. Zärtlich streichelt er die warmen Exkremente eines Bären, die er "poop" nennt wie Mütter die Windelinhalte ihrer Säuglinge. "Alles an ihm ist perfekt", sagt Treadwell sinnend. Und nicht zum ersten Mal schwört er, er würde gern für seine Freunde sterben, wenn es ihnen hülfe.

Was Werner Herzog anzieht und worin er einen Bruder in Treadwell erkennt, ist die überwältigende Menschlichkeit eines Mannes im Tierversuch anderer Art. "Es gibt Momente, in denen er paranoid ist, Momente von Grandiosität, Momente der Niederlage und des Starkults. In der Quintessenz ist er menschlich, mit allen Fehlern, wie wir alle." Herzog hält nichts von Bäumeumarmern, die nach seiner Überzeugung Natur sentimentalisieren. Den Bär-Blogger Timothy Treadwell nimmt er vom Kitschvorwurf immerhin aus. Er bewundert den Mut des Mannes, der in seinem letzten Sommer 20 Pfund abnahm und am Ende nur noch Fetzen seiner schwarzen Kluft am Leib trug. Die letzten Videoaufnahmen von seinem Todestag zeigen den mageren Helden seltsam zögernd seine letzten Worte findend. Suchtrupps störten den Killerbären, erlegten ihn und bargen "vier Mülltüten people" aus seinem Verdauungstrakt. Der linke Arm und die Hand Treadwells mit der Armbanduhr wurden gefunden. Es zählt zu den ergreifendsten Momenten von Herzogs "Grizzly Man" zu bezeugen, wie der Leichenbeschauer der "Witwe" die Uhr übergibt, die niemals stehen geblieben ist.

Im Bauch des Bären tickt noch die Uhr - WELT (2024)

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